Back to top
Skip to content

Wilmersdorfer Straße

Einfache Sprache Gebärdensprache

Der Text heißt: Wilmersdorfer Straße

Die Autorin heißt: Tara Herbener

Hier könnt ihr den Originaltext von der Autorin Tara Herbener in Standardsprache lesen.

Das ist der vereinfachte Text. 

 

Wilmersdorfer Straße

Als ich drei Jahre alt war drehte eine Studentin von der Filmhochschule einen Film. In dem Film ging es um die deutsch-tibetische Lebensgeschichte meiner Eltern und unser Familienleben in Berlin und Tibet. Der Film aus dem Jahr 2000 hieß: Jenseits von Tibet von Solveig Klaßen. 

Den Film empfinde ich heute als sehr künstlerisch. Die Aufnahmen sind wie ein Werbefilm im Retro Stil gemacht. Die Studentin, die den Film gedreht hat, wollte beim Zuschauer nostalgische Gefühle hervorrufen.
Wie bei einem Werbefilm, der unsere Kaufkraft anregen soll.
Nur dass es hier nicht um einen Werbefilm, sondern um einen Blick auf mein Leben ging.

Ich habe auch einen Film gemacht. Mit meiner Arbeit versuche ich die Sehnsucht einzufangen, welche die Bilder aus einer vergangenen Zeit auslösen.
Nostalgie ist für mich in diesem Zusammenhang ein wichtiger Schlüsselbegriff. 

Der Schriftsteller Milan Kundera sagte:
Es handelt sich bei der Nostalgie um einen unerfüllten Wunsch, zu etwas Vergangenem zurückkehren zu können. Und die Nostalgie verursacht Leiden.
Denn:
Nostos heißt im griechischen Rückkehr.
Algos bedeutet Leiden. 

Oft verherrlichen Menschen die vergangenen Zeiten und den früheren Zustand von Orten. Während ihnen die Gegenwart als fremd erscheint.

Als Schauplatz für meinen Film habe ich die Wilmersdorfer Straße in Berlin Charlottenburg gewählt. Denn schließlich ist Tibet, der zweite Schauplatz des Filmes und die Heimat meines Vaters, für mich unerreichbar.

Die Wilmersdorfer Straße war für meinen Vater Ngawang Gelek der erste Berührungspunkt mit Deutschland und der deutschen Gesellschaft. 

Hier betete er öffentlich. Und stellte damit seine Erinnerungen an ein vergangenes Leben in Indien und Tibet dar. 

Er sah die Wilmersdorfer Straße durch den Spiegel der diasporischen Fluchterfahrung. Für ihn war diese Straße ein Ort der Neuerschaffung seiner zurück gelassenen Identität.

Für die buddhistischen Mönche und Nonnen der tibetischen Klöster ist die Praxis des Betens und Bettelns Teil ihrer alltäglichen Lebensweise. 

In einer öffentlichen Einkaufsstraße in Berlin stellte sie jedoch einen nicht unbedingt gern gesehenen Bruch mit der gewohnten Umgebung dar.
Oft fragten mich meine Mitschülerinnen und Mitschüler, warum mein Vater betteln müsste.
Einmal wurde sogar die Polizei gerufen, die meinen Vater nicht nur gewaltvoll verhaftete, sondern ihn auch bedrohte, rassistisch beschimpfte und in eine Gefängniszelle steckte.

Durch dieses Ereignis veränderte sich der Ort für mich:
Die Wilmersdorfer Straße wurde zu einer stetigen Erinnerung an die Klassengesellschaft und den Rassismus, der die Gesellschaft und Behörden in Deutschland durchdringt.

Die Wilmersdorfer Straße zu betreten bedeutet für mich zurückzukehren und die Etappen der Integration meines Vaters zu durchlaufen.

Bis zum heutigen Tag an dem er nicht mehr dort sitzen muss. Und trotz der traumatischen Erfahrungen, die wir dort machten, ergreift mich dabei ein Gefühl.
Ein Gefühl für dessen Beschreibung sich das Wort Nostalgie am besten eignet.

Ich verwende das Filmmaterial aus dem Dokumentarfilm der Studentin und mische es mit meinen aktuellen Aufnahmen der Einkaufsstraße. So kann ich meine Erinnerungen in die Gegenwart übertragen. In meinem Film gibt es auch eine Erzählstimme, die die Bilder und meine Gedanken zu meiner Kindheit verknüpft.

Zeitungsartikel und andere Berichte über meinen Vater könnt ihr hier nachlesen:

https://www.tip-berlin.de/stadtleben/der-tibeter

https://berlinerbegegnungen.wordpress.com/category/fusgangerzone-wilmersdorferstrase 

https://www.focus.de/panorama/reportage/alles-in-buddha-reportage_id_1890751.html 

https://taz.de/!1124633

https://taz.de/Zu-laut-fuer-den-Frieden/!1124634/ 

https://www.welt.de/print-welt/article258730/Berlins-bekanntester-Strassenmusiker-vor-Gericht.html 

https://www.welt.de/wams_print/article2291580/Buddha-findet-viele-Freunde.html

Original Sprecher Text zum Film von Tara Herbener zum Mitlesen:

Mapping Memory Wilmersdorfer Straße

 

Die Wilmersdorfer zu betreten, bedeutet für mich Rückkehr.

Zurück in eine Zeit, in der die Mitte meiner Welt hier liegt, wo mein Papa sitzt und betet.

Eine verstrichene Kindheit, eine Zeit, in der es noch Drospa gibt und noch keinen dm.
Alles ist so einfach: Mama geht mit dem Kinderwagen einkaufen, Papa betet und lacht.
Wir gehen shoppen bei Pimkie und Papa sitzt und betet.

Auf ihn ist verlass, er hat sicher noch einen 10er für mich übrig.

Trotzdem schäme ich mich auch ein wenig.

2021 – mein Vater ist nicht mehr da.

Er ist froh, einen „normalen“ Job zu haben und ich bin nostalgisch, als wäre ich jetzt die alte Frau.