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Wannsee Erinnerungen

Einfache Sprache Gebärdensprache

Der Text heißt: Wannsee-Erinnerungen

Die Autorin heißt: Yon Natalie Mik

Hier könnt ihr den Originaltext von der Autorin Yon Natalie Mik in Standardsprache lesen.

Das ist der vereinfachte Text.

 

Wannsee-Erinnerungen

Ich bin fasziniert von der Kunst des Erinnerns. 

Davon wie und warum wir uns erinnern und Dinge vergessen.

Wie schaffen alte Erinnerungen neue Erinnerungen?
Und wie formen Erinnerungen die Wahrnehmung von uns selbst, unserer Umgebung und unseren Beziehungen zu anderen?

Meine früheste Wahrnehmung von Deutschland war geprägt von den Freuden, Schmerzen und Sehnsüchten meiner Mutter und ihrer zwei Schwestern. Alle drei kamen ab 1970 nacheinander aus Korea nach Deutschland.

Ihre Art und Weise das fremde Land zu betrachten wurde bald zu einer Art Brille, die an mich weitergereicht wurde. Ich setzte diese Brille auf, um mein eigenes Leben zu bewältigen.
Obwohl mir häufig bewusst war, dass die Sicht durch diese Brille nicht immer gut für mich war: Sie beschützte mich zwar, hielt mich aber davon ab, meine eigene Welt zu sehen und neu zu entdecken.
Schon bald lernte ich, dass meine Beziehung zur Welt niemals frei von meiner Vergangenheit sein würde. Eine Vergangenheit, die gar nicht zu mir gehörte. Ich musste mein Leben lang lernen, meine eigene Sicht auf die Dinge zu entwickeln.

Ich begann zu schreiben und verfasste einen Text über die ersten Jahre meiner Mutter in Deutschland.
Ich wollte dadurch verstehen, warum meine Mutter immer so eine große Sehnsucht nach Korea hatte.
Sie lebte damals in Wannsee, einem Ortsteil in Berlin. Ich wollte über ihre Erinnerungen diesen Ort kennen lernen. Ich merke, dass sich durch jede neue Geschichte meiner Mutter auch meine Beziehung zu Berlin und Deutschland veränderte.

Um mit dem Ende anzufangen: Ein langes Leben in Deutschland war für meine Mutter nicht möglich.
Nach 50 Jahren in Deutschland kehrte sie im Alter von 70 Jahren nach Korea zurück. Ich dagegen habe das Bedürfnis eine enge Beziehung zu diesem Ort aufzubauen, den ich als mein neues Zuhause ausgewählt habe.

Meine Mutter war eine von 10.000 südkoreanischen Frauen, die in der Nachkriegszeit als Krankenpflegerinnen in Deutschland arbeiteten.

Für viele Frauen war dies eine Möglichkeit das Land vorübergehend zu verlassen, um etwas Neues zu erleben. Meine Mutter war erst 18 Jahre alt, als sie in Wannsee ankam.

Damals wusste sie noch nicht, dass sie viel länger als erwartet in Deutschland bleiben würde. Und über die Hälfte dieser ersten drei Jahre in Wannsee als Patientin in einem Krankenhaus. Das Krankenhaus in dem sie eigentlich arbeiten wollte. Es war eine schlimme Zeit, in der sie beinahe gestorben wäre.

Meine Mutter wurde in eine Lungenklinik in Wannsee eingewiesen, die sich auf die Behandlung von Tuberkulose spezialisiert hatte.

Bei ihrer Ankunft litt sie unter schlimmen Heimweh, das durch die Sprachbarriere nur noch verstärkt wurde. Sie weinte drei Monate lang jeden Tag, bis die Lymphknoten in ihrem Hals anschwollen.

Die Ärztinnen und Ärzte vermuteten eine Infektion. Sie entschieden, dass eine Untersuchung gemacht werden müsste, um mehrere Proben der Lunge zu entnehmen.
Nach einer ersten Untersuchung wurde sie aufgefordert, sofort ein Dokument zu unterschreiben. Ein Dokument, das in einer Sprache geschrieben war, die sie nicht lesen konnte.
Sie war verängstigt. Sie sprach zu dieser Zeit kein Wort Deutsch.

„Siehst du diese Narbe?“ Meine Mutter zeigt auf ihren Hals und grinst, als ob sie es selbst nicht glauben könnte.
Sie versteht bis heute nicht, warum für eine Untersuchung ein so großer Schnitt nötig gewesen sein sollte. 

Sie sagt: „Wenn ich heute daran zurückdenke, ist es lächerlich. Aber ich war damals einfach so besorgt und verängstigt.“ 

Später fand sie heraus, dass ihre Probe von der Lunge im Labor versehentlich mit Tuberkulose Bakterien verunreinigt wurde. Sie hätte eine Entschädigung verlangt, wenn sie damals deutsch gesprochen hätte. Ihr wurde auch nie eine Entschädigung angeboten.

Nach der Fehldiagnose Tuberkulose wurden meiner Mutter ein ganzes Jahr lang Medikamente gegeben, die ihre Leber schwer schädigten. Die Medikamente verursachten außerdem schlimme Schwellungen in ihrem ganzen Körper. 

Nach Monaten wurden die Schwellungen so heftig und schmerzhaft, dass sie es nicht mehr aushielt.
Sie begann die Medikamente heimlich wegzuwerfen. Nach nur einer Woche fühlte sie sich besser.
Zwei weitere Monate lang warf sie die Medikamente weg und ihr Körper erholte sich schließlich.

Diese Erfahrung hat sie gelehrt ihrem Körper zu vertrauen und der westlichen Medizin zu misstrauen.
Meine Mutter sagt: „Ich fühlte mich wie eine hilflose Ratte in einem Laborkäfig. Ich dachte die ganze Zeit über nur ans Überleben.“
Die Ärzte der Klinik wurden allgemein als Experten betrachtet. Auch von den koreanischen Krankenpflegerinnen, die dort arbeiteten. Viele davon heirateten Ärzte von dort.
Auch meine Mutter wollten einige Ärzte heiraten, aber für sie war das unvorstellbar.
Ein ganzes Jahr war vergangen, als ihr endlich gesagt wurde, dass alles eine schlimme Fehldiagnose gewesen sei. Es gab weder eine Entschuldigung noch eine weitere Erklärung dazu, was passiert war.

Nach dieser unvorstellbaren Tragödie war meine Mutter dankbar, dass sich ihr Körper wieder gesund fühlte. Sie machte täglich Spaziergänge zum Wannsee und erkundete die Umgebung.

Alles dort war einladend. Die Luft war sauber und sie liebte es Zeit in den Wäldern zu verbringen. Diese Wälder sahen ganz anders aus als die koreanischen Bergwälder aus ihrer Heimat.
Zu ihrer Überraschung gab es viele essbare Heilkräuter, mit denen man in der koreanischen Volksmedizin vertraut ist:

  • sanpa (Bärlauch)
  • chamnamul (Pimpinelle)
  • hwasalnamu (Flügel-Spindelstrauch) und andere. 

Von diesen köstlichen Pflanzen schien niemand Notiz zu nehmen.
Aber für meine Mutter, die in den koreanischen Bergen aufgewachsen war, war es ein Geschenk. Ein Geschenk, das ihre Vorfahren geschickt hatten.
Spaziergänge durch die Wannseer Wälder und das Sammeln von Pflanzen sind schöne Erinnerungen für meine Mutter.
Sie genoss die Zeit, die sie in der Küche des Wohnheims damit zubrachte, die Kräuter zuzubereiten und mit Reis und Suppen zu essen.
Die Wildgräser und Blätter, die in den koreanischen Bergen wuchsen, schienen zwar intensiver zu schmecken, aber es war nah genug dran.

Die heilende Erfahrung des Sammelns, Kochens und Essen der Kräuter halfen meiner Mutter ihr Heimweh ein wenig zu vergessen. Eines Tages bemerkte sie, wie die Kräuter immer wieder neue Wurzeln bildeten. Wie sie es schafften, den fremden Boden zu ihrem neuen Zuhause zu machen.

Einige Zeit später wurde meine Mutter erneut in die Notaufnahme eingeliefert, nachdem sie einen Patienten behandelt hatte.
Die Leberschäden, die die falschen Medikamente verursacht hatten, machten sie anfällig für neue Krankheiten. 

Wieder musste sie ein halbes Jahr lang im Bett liegen.
Diese zweite lange Zeit im Krankenhaus trieb meine Mutter an, eine neue Richtung in ihrem Leben einzuschlagen.
Sie wollte noch mehr über Naturheilkunde und Volksmedizin lernen.
Sie wollte sich selbst heilen können.
Immer wenn ihr in den Jahren danach eine chemische Arznei verschrieben wurde, warf sie diese weg.