Contemporary bei Tamae
Nirgendwo sonst in Berlin spüre ich meine Verbindung nach Asien so deutlich wie in diesem Tanzstudio, während Tamaes Contemporary-Stunden. Diese Stunden sind anders als alles, was man bei Flying Steps oder in anderen Berliner Tanzstudios erlebt.
Tamaes japanischer Körper ist wendig, flexibel, und agil und sie bewegt sich fast geräuschlos. Oft genügt es, ihr beim Tanzen zuzusehen, damit mir die Tränen kommen. Es steckt so viel Traurigkeit und Wahrheit in ihren Bewegungen. Ich erkenne darin die Selbstvergessenheit und Disziplin, die mir im Rahmen meiner Erziehung beigebracht wurde. Sie investiert wahnsinnig viel Energie in ihren Unterricht, spornt an, tanzt hingebungsvoll vor und mit, lebt in ihren Bewegungen und spricht, motiviert, applaudiert, quietscht vor Freude oder grölt vor Begeisterung, nachdem die Gruppe getanzt hat. Einmal ist sie vor Begeisterung in Tränen ausgebrochen und hat alle umarmt.
Tamae ist eine extrem starke, ununterbrochen strahlende Powerfrau. Ich nehme bei ihr aber auch eine tiefere Ebene wahr: ein Verletztsein, das seinen Ursprung in subtiler Unterdrückung hat, eine leise Wut, wegen all dem, was von ihr verlangt wurde, eine Sehnsucht nach der Kultur, die sich nach „Zuhause” anfühlt; und nach anderen Menschen, die Feingefühl und Rücksicht an den Tag legen und die diszipliniert sind im Umgang miteinander. Eine gemeinsame Freundin erzählte mir einmal von Schwierigkeiten, die Tamae mit einem männlichen Choreographen hatte, in dessen Crew sie tanzt. Ich sagte, dass Tamae zum Glück immer so selbstbestimmt sei. „That’s true in some way“, meinte er, „but because she is Japanese… she was also trained to be very submissive.” [auf Deutsch: „Das stimmt auf eine Art, aber weil sie Japanerin ist … ihr wurde auch beigebracht, sehr unterwürfig zu sein.“]
Diese Geschichte tut mir geradezu weh. Story of my life, sozusagen. Dieses zurückgenommene, aushaltende, leise, altruistische Verhalten, das beispielsweise in Taiwan als normal und edel angesehen wird, führt in einer westlichen Gesellschaft nicht dazu, dass man bekommt, was man braucht. Niemand sieht diese Individuen, die scheinbar nie etwas möchten, immer funktionieren, unglaublich angenehm sind im Umgang, die laut werden, viel herunterschlucken und härter im Nehmen sind als andere. Niemand sieht sie und viele nutzen sie versehentlich aus. Sie profitieren von ihren hart erarbeiteten Fähigkeiten, von ihrer emphatischen, altruistischen und geduldigen Art, von ihrer Loyalität und, ihrem Leistungs und Anpassungsvermögen. Aber Tamae strahlt weiter und ich strahle mit ihr. Bitterkeit ist uns fremd, glaube ich. Unsere Gefühle, unsere tiefe Traurigkeit sind uns dagegen sehr vertraut. Menschen, die die andere Kultur nie erlebt haben, können zwar unseren Erklärungen lauschen, jedoch verstehen sie uns nur selten.
Ich glaube, der beste Umgang damit, der Tamae und mir bislang in den Sinn kam, ist zu tanzen.