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Eine Karte der Einsamkeit

Einfache Sprache Gebärdensprache

Der Text heißt: Eine Karte der Einsamkeit

Die Autorin heißt: Susanna

Hier könnt ihr den Originaltext von der Autorin Susanna in Standardsprache lesen.

Das ist der vereinfachte Text.

 

Eine Karte der Einsamkeit

Als ich nach Berlin zog, war meine Mutter gerade auf dem Weg zurück nach Shanghai. 

Sie kehrte an ihren Geburtsort zurück. Meine Mutter hätte nie gedacht, dass sie nochmal nach Shanghai zurückkehren würde.
Immer wenn ich meine Mutter vermisste, fand ich Trost im Essen. Aber nicht irgendein Essen, sondern unser traditionelles chinesisches Essen.

Es gab nur wenige Dinge, die ich mitnahm, als ich von zu Hause auszog. Ich wollte alles in der Stadt zurücklassen, in der ich geboren wurde und in der ich mich oft fremd gefühlt hatte.
Als meine Mutter zurück nach Shanghai ging, löste sie unsere Wohnung auf. Ich durfte alles, was ich wollte, aus der Wohnung mitnehmen. Das Erste und Wichtigste, das ich einpackte, war unser Reiskocher.

In der Straße in der ich wohnte, gab es einen asiatischen Supermarkt. Ich ging immer dorthin, wenn ich sie vermisste, weil ich sie wegen der Zeitverschiebung nicht anrufen konnte. Ich ging an den Regalen vorbei und hatte Tränen in den Augen. Vor allem, wenn ich die Süßigkeiten sah, die sie mir als Kind gekauft hatte.

Meine Mutter kaufte mir einen großen Sack Reis, bevor sie nach Shanghai abreiste. Das war ihre Art, sich um mich zu kümmern. So hatte sie das Gefühl, mich auch aus der Ferne umsorgen zu können.

Sie hatte mir nie verraten, wie viel Wasser ich für den Reis brauche.
Zu Hause war es meine Aufgabe gewesen zu lernen. Ihre Aufgabe hatte darin bestanden, mich dabei zu unterstützen. Zu Hause ließ sie mich den Reis nur waschen und so lange abspülen, bis das trübe Wasser klar wurde.

Am Anfang versuchte ich sie über das Handy zu erreichen, um herauszufinden, wie viel Wasser ich für den Reis brauche. Die Verbindung war häufig schlecht. Daher verliefen unsere Gespräche oft chaotisch. Sie sagte: Nimm deinen Finger und steck ihn bis zum ersten Fingerknöchel in das Wasser. Dann weißt du, wieviel Wasser du brauchst.

In Berlin gab es nichts, was mich an meine Mutter erinnerte. Es gab daher auch nichts, was mich an meine Herkunft erinnerte. Alles, was mich chinesisch machte, war meine Mutter. Und die war plötzlich weg.

Einmal im Jahr kam meine Mutter zu Besuch. Wir besuchten dann Restaurants, die unsere chinesische Küche servierten. Ich selbst konnte anhand der Gerichte nur vermuten, dass es sich wirklich um traditionell chinesisches Essen handelte. Daher brauchte ich immer das Urteil meiner Mutter. Erst dann fühlte ich mich meiner Heimat ein Stück näher. Meine Mutter musste das Essen absegnen. Außerdem erkundigte sie sich bei den Kellnerinnen und Kellnern, aus welchem Teil Chinas ihre Familien stammten. Erst dann fühlte ich mich wohl.

Ich machte Notizen in eine Karte im Internet. Jedes chinesische Restaurant, das ich in Berlin besuchte, trug ich dort ein. So entstand meine Karte: Mein Weg durch die Stadt Berlin.

Ich fand viele traditionelle Gerichte, die meine Mutter auch immer zubereitet hatte.

Ich fand Jiǎozi, die genauso schmeckten, wie die, die meine Mutter gemacht hatte. Sie hatte mir beigebracht, sie selbst zu falten, damit sie sich im kochenden Wasser nicht öffneten.
Ich fand schlechte und trockene Xiǎo Lóng Bāo. Der Teig der Hefeklopse war aber falsch zubereitet und sie hatten die falsche Größe.

Ich sah mich um: Keinen der anderen Gäste schien das zu stören. Für die falsch zubereiteten Hefeklopse zahlten sie zufrieden sehr viel Geld.

Ich fand Chǎo Miàn, die unerklärlicherweise mit dem Gewürz Curry gewürzt worden waren. Ich war oft enttäuscht, wenn ich ein Restaurant betrat und niemand in meiner Muttersprache mit mir sprach. Das Restaurant war wie eine mir fremde Bühne. Es vermittelte mir nie ein Gefühl mich meiner asiatischen Heimat näher zu fühlen.

Aber es gab auch Orte und Restaurants, an denen sie Gerichte servierten, die wie in meiner Heimat schmeckten. 

Das waren die Orte, die meine Mutter absegnete.
Die Orte, die ich nach ihrer Abreise aufsuchte, um mich weniger allein zu fühlen. Denn dort konnte ich mich an meine Mutter erinnern.

Ich versuche meine Erinnerungen auf einer Karte zu verzeichnen.

Aber sie erscheinen mir nur als verblasste Hinweise auf meine Geschichte und meine Tradition. Sich zu erinnern heißt immer zurückkehren. Zurückkehren an einen Ort oder eine bestimmte Situation. 

Zurückkehren zu einem Menschen, den es vielleicht nicht mehr gibt.

Sich erinnern bedeutet, aus der Vergangenheit etwas Eigenes zu erschaffen. Das hat oft wenig mit dem zu tun, was unsere Eltern uns mit auf den Weg gegeben haben.
Viele meiner Erinnerungen, in denen meine Mutter eine große Rolle spielt, sind eine Wertschätzung für meine chinesischen Wurzeln.

Einmal besuchte ich mit meiner Mutter ein Restaurant in Berlin.  Vor der Tür stand ein Schild mit abblätternder Farbe. Darauf stand: Buffet. Essen Sie so viel Sie möchten. 

Die Kellnerin kam an unseren Tisch und meine Mutter sprach sie auf Chinesisch an. Da nahm die Kellnerin mit einem Lachen die Karten vom Tisch und sagte: Diese Karte ist für Ausländer. Ich hole die richtige Karte. Die Kellnerin musterte mich, während meine Mutter die chinesische Karte las. 

Ich fragte nach einem bestimmten Gericht. Die Kellnerin rief nach dem Koch. Gibt es noch Auberginen? Der Koch kam fluchend aus der Küche. Er verneinte und war untröstlich, als er mich sah. Wartet, sagte die Kellnerin und verschwand. Als sie zurückkam, erklärte sie: „Der Koch ist in den türkischen Supermarkt gegangen. Er holt Auberginen und bereitet das Essen für Sie zu.“
Ich erinnere mich, dass das Essen ausgezeichnet war und dass sich der Koch persönlich danach erkundigte.

Mir wurde klar, dass es unausgesprochene Vereinbarungen zwischen Menschen gibt:
Menschen, die am gleichen Ort geboren wurden und sich irgendwo auf der Welt begegnen. 

Wie sie sich gemeinsam bemühen, um den nachkommenden Generationen eine bessere Position und eine bessere Zukunft zu erschaffen. 

Bis heute suche ich nach einem Restaurant, in dem das Gericht mit den Auberginen so schmeckt wie an diesem Tag mit meiner Mutter.