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Eine Karte der Einsamkeit

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Eine Karte der Einsamkeit

Als ich nach Berlin zog, befand sich Ma gerade auf ihrem Weg zurück nach Shanghai. Sie kehrte an ihren Geburtsort zurück, einem für sie fremd klingenden Ruf folgend, da sie den Ort aufsuchte, von dem sie einst glaubte, dass sie ihm endgültig den Rücken gekehrt hätte. Jedes Mal, wenn ich sie vermisste, war das Einzige, was mich tröstete, das Essen. Unser Essen.

Es gab nur wenige Dinge, die ich mitnahm, als ich zum ersten Mal von zu Hause auszog. Ich wollte alles in der Stadt zurücklassen, in der ich geboren wurde und in der ich mich oft fremd gefühlt hatte. Weil Ma nach Shanghai ging, löste sie unsere Wohnung auf. Ich durfte alles, was ich wollte, aus der Wohnung mitnehmen. Das Erste und Wichtigste, das ich einpackte, war unser Reiskocher.

In der Straße, in der ich wohnte, gab es einen asiatischen Supermarkt[1]. Ich ging dorthin, wenn ich sie vermisste, weil ich sie wegen der Zeitverschiebung nicht anrufen konnte. Ich ging an den Regalen vorbei und hatte Tränen in den Augen, wenn ich die Snacks sah, die sie oder mein Großvater mir als Kind gekauft hatten.

Ma kaufte mir einen großen Sack Reis, bevor sie abreiste. Das war ihre Art, sich um mich zu kümmern. So hatte sie das Gefühl, mich aus der Ferne umsorgen zu können. Sie hatte mir nie verraten, wie viel Wasser ich für den Reis brauche. Zu Hause war es meine Aufgabe gewesen, zu lernen. Ihre Aufgabe hatte darin bestanden, mich dabei zu unterstützen. Zu Hause ließ sie mich den Reis nur waschen und so lange abspülen, bis das trübe Wasser klar wurde.

Anfangs versuchte ich sie über Wechat zu erreichen, um herauszufinden, wie viel Wasser ich brauche. Die Verbindung war häufig schlecht und unzuverlässig, die Gespräche verliefen chaotisch. Nimm deinen Finger, sagte sie, steck ihn rein, bis zum ersten Knöchel, das reicht. Solche kryptischen Anweisungen diktierte sie mir aus der Ferne.

In Berlin gab es nichts, was mich an Ma erinnerte. Es gab keine materiellen, greifbaren Anknüpfungspunkte hinsichtlich meiner Herkunft oder meiner Identität. Es gab keine Verbindung mehr zu dem, was bisher selbstverständlich ein Teil von mir gewesen war. Alles, was mich chinesisch machte, war meine Mutter – und die war plötzlich weg.

Einmal im Jahr, wenn meine Ma zu Besuch kam, besuchten wir Restaurants, von denen ich glaubte, dass sie unsere Küche servierten. Ich selbst konnte anhand der Gerichte und des dort gesprochenen Dialekts nur vermuten, dass es sich um authentisches Essen handelte. Daher brauchte ich immer Mas Urteil, um wirklich das Gefühl zu haben, dass dies ein Stück Heimat war. Sie musste das Essen absegnen und sich bei den Kellner*innen erkundigen, aus welchem Teil Chinas ihre Familien stammten. Erst dann fühlte ich mich wohl.

Ich fertigte eine Google-Notiz zu jedem chinesischen Restaurant an, das ich in Berlin besuchte, und zeichnete so meinen eigenen Weg durch die Stadt auf. Ich fand 饺子[2], die genauso schmeckten, wie jene, die Ma gemacht hatte. Sie hatte mir beigebracht, diese selbst zu falten, damit sie sich im kochenden Wasser nicht öffneten. Ich fand schlechte und trockene 小笼包[3], deren Teig eher an jenen von 包子[4] erinnerten und die die falsche Größe hatten. Ich sah mich um: Keinen der anderen Gäste schien das zu stören. Für die falsch zubereiteten Hefeklopse zahlten sie zufrieden und nichtsahnend ein kleines Vermögen. Ich fand 炒面[5], die unerklärlicherweise mit Currypulver gewürzt worden waren. Ich war häufig enttäuscht, wenn ich ein Restaurant betrat und niemand in meiner Muttersprache mit mir sprach. Das Restaurant war nur eine Kulisse, asiatisch bestenfalls für das fremde Auge, und ein Betrug in meinen. Aber es gab auch Orte, an denen sie土豆丝[6] servierten und 地三鲜[7] und die nach meinem Zuhause schmeckten; 烤麸[8], das nach der Erinnerung an meine Ayí schmeckte. Die Orte, die Ma absegnete, waren die Orte, die ich nach ihrer Abreise aufsuchte, um mich weniger allein zu fühlen. Dort lebte die Erinnerung an meine Ma fort.

Das Problem, das ich als Kind mehrerer Heimaten  bei der Kartierung von Erinnerungen habe, sind die leeren Seiten, die man mir auf die Reise mitgab. Auf ihnen sind lediglich verblassende Hinweise auf die Sprache, Geschichte und Tradition und leider oft auch auf das Leid verzeichnet. Oft nehmen wir diese Hinweise lange nicht wahr. Sich zu erinnern, heißt auch immer, zurückzukehren – an Orte und zu Gegebenheiten sowie zu Menschen, die es vielleicht nicht mehr gibt. Sich erinnern bedeutet, aus der Vergangenheit etwas Eigenes zu kreieren, für das zuerst kompromisslos Raum geschaffen werden muss. Das hat sehr oft wenig mit dem zu tun, was unsere Eltern uns mit auf den Weg gegeben haben. Viele meiner Erinnerungen, in denen Ma eine Rolle spielt, sind ein Stück weit ein Tribut an meine Wurzeln. Ich habe sie über die Jahre sorgfältig und einfühlsam kuratiert.

Einmal, als Ma zurückkam, besuchten wir ein Restaurant auf meiner Straße, das es mittlerweile nicht mehr gibt.[9] Vor der Tür stand ein Schild mit abblätternder Farbe, mit dem ein „All You Can Eat Buffet“ angepriesen wurde. Die Kellnerin kam an unseren Tisch und Ma sprach sie in unserer Sprache an. Da nahm die Kellnerin entschuldigend die laminierten Karten mit einem Lachen vom Tisch und sagte, diese Karte sei für Ausländer, sie hole die richtige Karte. Die Kellnerin musterte mich, während Ma die chinesische Karte las. Ich fragte nach 鱼香茄子[10]. Die Kellnerin rief nach dem Koch. Gab es noch Auberginen? Er kam fluchend aus der Küche. Er verneinte und war untröstlich, als er mich sah. Die Kellnerin betrachtete mich eingehend und fragte meine Ma, ob ich ihre Tochter sei. Ma bejahte. Die Kellnerin fragte: 混血[11]? Ich nickte. Wartet, sagte sie, und verschwand. Als sie zurückkam, erklärte sie, dass der Koch in den türkischen Supermarkt gegangen sei, der sich unter dem Restaurant befand. Er hole Auberginen, er werde bald zurück sein und das Essen zubereiten. Sie denke, dass Essen sei in zwanzig Minuten auf dem Tisch.

Ich erinnere mich, dass das Essen ausgezeichnet war und dass sich der Koch persönlich danach erkundigte. Aber viel deutlicher erinnere ich mich daran, dass mir klar wurde, dass es unausgesprochene Vereinbarungen zwischen denjenigen gibt, die am gleichen Ort geboren wurden und sich irgendwo auf der Welt begegnen. Wie sie sich gemeinsam an den Rändern der Gesellschaften abrackern, um den nachkommenden Generationen eine vorteilhaftere Position zu verschaffen, auf dass deren Zukunft verheißungsvoller sei als die eigene. Bis heute suche ich nach einem Restaurant, in dem das Gericht 鱼香茄子 so schmeckt wie an diesem Tag.

Anmerkungen

[1] VINH-LOI Asien Supermarkt, Müllerstraße 141, 13353 Berlin
[2] Jiǎozi, Wok Show, Greifenhagener Str. 31, 10437 Berlin; Shaniu’s House of Noodles, Pariser Str. 58, 10719 Berlin
[3] Xiǎo Lóng Bāo
[4] Bāo zi
[5] Chǎo Miàn
[6] Tǔ Dòu Sī, Asia Deli Berlin, Seestraße 41, 13353 Berlin
[7] Dì Sān Xiān, Tianfuzius, Regensburger Str. 1, 10777 Berlin
[8] Kǎo​Fū, Wok Show, Greifenhagener Str. 31, 10437 Berlin
[9] Es befand sich in der Müllerstraße, 13353 Berlin.
[10] Yú Xiāng Qié Zi
[11] Hùn Xuè