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Die Wälder Berlins

Einfache Sprache Gebärdensprache

Deutsche Übersetzung aus dem Englischen

Die Wälder Berlins

Pro Woche verbringe ich einen Tag in einem der Berliner Wälder. Frühmorgens mache ich mich mit einem Rucksack mit einer Wasserflasche, spiritueller Lektüre, einem Sandwich, einem Handtuch, Kopfhörern, einem Notizbuch und Insektenspray auf den Weg. Der Tag wird zu einer langen Meditation, – einer Form der spirituellen Kommunion. Ich wandere nicht, streife eher umher und halte mich dabei so fern von Straßen wie möglich, um nur die Geräusche des Waldes zu hören, halte an, um auf Baumstümpfen zu meditieren oder Moos, Schlamm und Rinde zu berühren. Manchmal berühre ich einen Baum und stelle ihm eine Frage: sie antworten immer. Ich mache mir keine Sorgen darum, mich zu verirren. Wie der Dichter David Wagoner schrieb: „Steh still. Der Wald weiß, Wo du bist. Du musst dich von ihm finden lassen.“

Wälder sind in der indischen Kultur ein wichtiges Motiv. Es war der Wald, in dem Buddha Erleuchtung fand, wo die alten Ashrams sich befanden, wohin sich die Alten zurückzogen, um ihre letzten Jahre in innerer Einkehr zuzubringen. Andererseits spielen Wälder in beinahe jeder Kultur eine zentrale Rolle. Einmal hörte ich beim Gehen einen Podcast mit Miriam-Rose Ungunmerr-Baumann, die die vierzigtausend Jahre alte Praxis des dadirri der australischen Aborigines erläuterte, eine Form des „tiefen Zuhörens und der leisen, stillen Wahrnehmung.“ Es ist nicht nötig, viel zu denken, oder es auch nur zu versuchen: „sei einfach und lass es dich finden.“

Vor kurzem erfuhr ich von der japanischen Praxis des shinrin-yoku, des sog. „Waldbadens“, das in den achtziger Jahren entwickelt wurde. Dabei geht es darum, den Wald mit allen fünf Sinnen in sich aufzunehmen, als eine Methode der Heilung, der Therapie. A.M. Amos Clifford schreibt in seinem Buch über das Waldbaden: „Jede*r trägt einen Wald in sich.“ Genau das erlebe ich bei jeder meiner Wanderungen. Der Wald in uns kommuniziert mit dem Wald außerhalb. Wir werden uns bewusst, dass die Art, wie wir den Wald wahrnehmen, dem entspricht, wie wir uns selbst wahrnehmen. Siehst du das Göttliche in den Baumwipfeln oder hast du Angst? Fühlst du dich verloren oder gehalten, umarmt, gefunden? Fühlst du dich von anderen Wandernden bedroht oder betrachtest du sie als Reisegefährt*innen und Freund*innen?

Bisher habe ich nur bei einer Gelegenheit Angst verspürt: ich war mit dem Zug vierzig Kilometer nördlich der Stadt gefahren, viel weiter, als ich mich normalerweise hinauswage und begann, mich vor einer Begegnung mit Neonazis zu fürchten (was mir einmal vor vielen Jahren auf dem Land passiert ist). Panisch kehrte ich schließlich zurück in die Stadt und begab mich in den Plänterwald, wo ich mich immer sicher fühle. Es war keine rein irrationale Reaktion: People of Color müssen in vielen Teilen Brandenburgs besonders vorsichtig sein. Aber wir müssen uns auch bewusst sein, dass die Natur uns allen gehört, und, wichtiger noch, dass wir alle ihr gehören, ausnahmslos.

Es ist immer ein Schock, aus der Heiligkeit des Waldes zu treten und sich wieder dem Verkehr, der Werbung und den Menschenmengen auszuliefern. Der Wald interessiert sich nicht dafür, wie wir angezogen sind oder welche Hautfarbe wir haben. Er nimmt uns einfach an. Der Wald ist ein einziger riesiger atmender intelligenter Organismus und wenn wir ihn betreten, werden wir, ohne Urteil oder Unterscheidung Teil davon. Wir besuchen den Wald nicht, wir werden eins mit ihm. Städte können einen ganz gegenteiligen Effekt haben. Sie verringern das Ego nicht; wenn überhaupt, verstärken sie es. In Berlin sind es die Wälder, durch die ich ganz geblieben bin, die mich sanft mir selbst offenbaren, mich geheilt und akzeptiert haben, wie es keine menschliche Gesellschaft je getan hat.

Dafür werde ich sie für immer lieben.