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Molecule Man, Spree

Einfache Sprache Gebärdensprache

Der Text heißt:  Molecule Man, Spree

Die Autorin heißt: Linh Müller

Hier könnt ihr den Originaltext von der Autorin Linh Müller in Standardsprache lesen.

Das ist der vereinfachte Text. 

 

Molecule Man, Spree 

Als ich im Jahr 2015 nach Berlin ziehe, holt mich mein Vater mit dem Auto aus meiner Wohngemeinschaft ab. Wir fahren zusammen zum Dong Xuan Center.

Von Neukölln geht es in den Stadtteil Alt-Treptow und wir überqueren die Elsenbrücke nach Friedrichshain.
Als wir über die Brücke fahren deutet mein Vater mit einer Hand aus dem Fenster. Er zeigt auf die Molecule Man Skulptur die mitten in der Spree steht. Kennst du die, fragt er. Die Skulptur ist sehr berühmt.

Mein Vater kommt im Oktober 1987 aus dem Vietnam als Arbeiter in die damalige Tschechoslowakei. 1990 überquert er heimlich die Grenze und verbringt eine Woche in Berlin. Er sagt: Ich wollte mich entscheiden, ob ich zurück nach Vietnam gehen soll oder lieber in Deutschland bleibe.

Er wollte sehen, wie das Leben in Deutschland so ist. 

Ich frage ihn nach dieser Woche in Berlin. Er erzählt mir, er hat bei Freunden im Asylantenheim in Spandau geschlafen. Einmal hat es eine Polizeikontrolle gegeben und er musste sich auf dem Balkon verstecken. 

Ich frage ihn, ob es ihm denn gefallen hat. Ja, sagt er. Es war sehr gut. Die Leute waren frei und die Läden waren voll.
Trotzdem fährt mein Vater zurück in die Tschechoslowakei. Er schickt seine Sachen und das Geld, das er noch hat, nach Vietnam und überquert wieder die Grenze nach Deutschland. Drei Monate verbringt er in Berlin. Dann kommt er nach Niedersachsen, wo ich aufwachse.

Ich überquere die Brücke oft. Mal mit der S-Bahn, mal mit dem Bus, mal auf dem Fahrrad. Und jedes Mal drehe ich mich zur Seite und schaue zum Molecule Man. Die Skulptur zeichnet sich deutlich gegen den Himmel ab. Der Himmel ist mal grau, mal blau, mal rosa.
Ich denke an meinen Vater.

Manchmal vergesse ich, dass mein Vater schon lange in Deutschland gelebt hat, bevor es mich überhaupt gab.
Manchmal vergesse ich, dass er sein eigenes Bild von diesem Land hat und seine eigenen Erlebnisse und Erinnerungen, die an verschiedene Orte gebunden sind.

Der Molecule Man steht seit dem Jahr 1999 in der Spree.
Mein Vater kann ihn also nicht gesehen haben, als er das erste Mal Berlin besucht hat.
Und doch erinnert mich der Molecule Man daran, dass mein Vater vor mir in Berlin gewesen ist. Im Jahr 1990 für ein paar Monate und ab dem Jahr 2012, als er schließlich nach Berlin zieht.
Der Molecule Man erinnert mich an einen Moment in unserer Beziehung, als mein Vater mir etwas zeigt. In einem Land      in dem ich ihn immer als Fremden wahrgenommen habe. Ein Land von dem ich immer gedacht habe, dass es doch vielleicht eher mein Land ist als seins.

Berlin ist jedoch die Stadt, die wir uns beide – wenn auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise – zu unserer eigenen Stadt gemacht haben.

Eine Stadt, in der wir schließlich eine tiefere Bindung zueinander aufgebaut haben.
Dafür bin ich Berlin dankbar.

Wenn ich über die Brücke fahre und den Molecule Man sehe, dann fühle ich mich meinem Vater verbunden.

Mein Vater, der seit Jahren ebenfalls diese Brücke überquert.
Mein Vater, der Jahre vor mir diese Skulptur zum ersten Mal vor dem Berliner Himmel sieht und Jahre später seine Tochter darauf aufmerksam macht.